Beide Bezirke
Südnassau Rheinhessen

Die Sachsen-Oma

*Geboren* wurde sie in Sachsen, das damals noch zum großdeutschen Reich gehörte. Ein Handwerker hämmerte ihren Trichter aus dickem, glänzendem Messingblech und bog ihre Rundungen mit aller Sorgfalt, der exakte, passgenaue Lauf der Rohre, die Schlangenverzierung aus Silber – ein Meisterwerk deutscher Blechinstrumentenbaukunst, die damals in den zwanziger Jahren weltweit führend und anerkannt war.

Im Katalog war sie zum Preis von 80 Reichsmark aufgeführt, eine stolze Summe, konnte man dafür doch beispielsweise auch eine Milchkuh bekommen!

Trotzdem fand sich ein Musiker, der diesen Betrag investierte und die Posaune mit in ein fernes Land nahm, Groß-Herzogtum Hessen – nie gehört, aber egal, Musik ist international und wird überall verstanden.
Sie wurde die führende Bassposaune in der Marschmusik der Blaskapelle, auf sie hörten alle die anderen Instrumente, sie gab den Takt an, war ihr Ton doch voll und knackig und von Allen gut hörbar.

Dann kamen Zeiten übers Land, die Menschen nannten sie *schlimm*, aber für die Posaune waren es gute Zeiten, ihre Marschmusik war beliebt und sie spielte oft. Dass ihr Bläser nun auf einmal eine braune Uniform trug, kümmerte sie nicht, wurde ihr Messing doch ohne putzen mit der Zeit auch braun und für die Musik machte das doch keinen Unterschied.
Eines Abends wurde sie wieder rausgeholt um fröhliche Märsche zu schmettern, in der Straße brannte ein Gebäude und Menschen johlten und sangen und tanzten, während andere verängstigt das Weite suchten. Etwas seltsam kam der Posaune nur vor, dass die Feuerwehr da stand und nicht zu löschen versuchte, aber was kümmerte die Posaune die seltsamen Angelegenheiten der Menschen, sie spielte jedenfalls voller Freude und Kraft.

Irgendwann in den nächsten Jahren wurden ihre Einsätze aber immer weniger, oft musste sie auf dem Friedhof *Ich hatte einen Kameraden* spielen, auch dafür war ihr Klang, voll und rund, gut brauchbar.
Dann war auch ihr Bläser auf einmal nicht mehr da und sie wurde aus ihrer Ecke nicht mehr hervor geholt.
So stand sie einige Zeit herum.
Die Frau ihres Bläsers trug sie irgendwann einmal auf einen Markt.
*Gegen ein Brot bitte!* sagte sie zu einem Neger.
Die Posaune verstand, dass sie verkauft werden sollte. Gegen EIN Brot? War ihr Wert soweit gesunken? Ehemals war sie eine ganze Milchkuh wert gewesen! Und dann an einen Neger? Sollte sie etwa Negermusik spielen anstatt ihrer geliebten Märsche?
Dieser Mensch probierte die Posaune aus und schüttelte den Kopf *Not good für my kind of music* sagte er und gab die Posaune an die Frau zurück. Die senkte den Kopf und fing an zu weinen. Der Fremde gab ihr ein Päckchen Zigaretten. Dankbar strahlte die Frau ihn an und küsste ihm die Hand, die Posaune schüttelte sich vor Ekel.
Aber sie sah noch, wie die Frau gegen das Päckchen Zigaretten ein Brot eintauschen konnte.

Die Posaune war für die Menschen nutzlos geworden, es war niemand mehr da, der fröhliche Märsche spielen wollte und gegen Lebensmittel war sie nicht einzutauschen.
So verschwand sie für lange Jahrzehnte auf einem Dachboden.
Brütende Hitze im Sommer, klirrende Kälte im Winter. Ha, sie lachte! Ihr armseligen Holzinstrumente, ihr wärt unter diesen Bedingungen schon lange verzogen, gesprungen und unspielbar, aber ich mit meinem guten Messing bleibe unberührt, selbst die Ratten können mich nicht annagen!
Aber irgendwann wurde sie dann doch traurig darüber, dass niemand sie mehr wollte.

Gedämpft hörte sie die Geräusche des Hauses, Kindergeschrei, auch Musik aus Radio oder von Schallplatte, aber niemand im Haus spielte mehr selbst.
Doch halt! Eines Tages hörte die Posaune reichlich schräge unsichere Messingtöne, zwar nur eine Trompete, aber überhaupt! Messingblech, selbst gespielt – bestand Hoffnung für sie, wieder hervorgeholt zu werden?
*Enkel lernt Trompete* hörte sie entfernt. Einige Jahre lang konnte die Posaune mit verfolgen, wie der Enkel immer besser spielte, immer zu Weihnachten spielte er seiner Oma ein Ständchen.
*Hallo, ich bin hier oben, ich kann mitspielen!* versuchte die Posaune zu rufen, aber ohne einen Menschen, der ihr Luft gab, konnte sie sich nicht bemerkbar machen.

Dann wurde es ganz still im Haus.
Blasinstrumente haben ein ganz feines Gespür für Atemluft und die Posaune spürte, dass im Haus keine Atemluft mehr vorhanden war, irgendetwas oder irgendwer hatte aufgehört zu atmen.
Das blieb einige Wochen so, dann wurde es auf einmal hell auf dem Dachboden.
*Ach du liebe Zeit, was ein Gerümpel* hörte die Posaune die Menschen stöhnen.
Dann wurden nach und nach Sachen weggeräumt, einfach aus dem Fenster geworfen, zur Seite gelegt, weggetragen… und auf einmal fand sich die Posaune in der Hand eines Mannes wieder. Aber das war kein Bläser, spürte sie sofort an der Unsicherheit, mit der er sie hielt.
*Kuck mal hier, eine Posaune! Was machen wir denn damit?* hörte die Posaune den Mann fragen.
*Daniel, eine Posaune, willst du die haben?*
*Zeig mal!* hörte die Posaune eine andere, jugendlichere Stimme *Nee, igitt, kuck dir die doch mal an: ganz dunkelbraun und mit Knitterfalten, so was will ich nicht! Meine Trompete ist schön glatt und golden glänzend! Was soll ich mit dem uralten Ding!*
Die Posaune wurde vielen Leuten gezeigt und angeboten, doch wieder wollte keiner sie haben.
Sie wurde langsam deprimiert, konnte denn keiner von den Menschen erkennen, welche eine gute Posaune sie war?
Schließlich hörte sie, wie der Mann am Telefon sagte: *Ich schenk sie dir, wenn du sie nicht willst, schmeiß ich sie weg, die liegt hier nur im Weg rum!*
Das war das absolute Tief für die Posaune, sie hätte weinen können. Sie war doch noch gut spielbar, hatte einen vollen, kräftigen Klang, stimmte noch astrein. Nun, ihr Zug und das Ventil müssten dringend in einer Werkstatt überholt werden, das Messing war dunkelbraun angelaufen und ihr Schalltrichter hatte einige Knicke, aber bitte, nach so vielen Jahrzehnten auf einem Dachboden, was verlangten die Menschen da? Sollten sie mal eine Geige oder ein Klavier sehen nach einem halben Jahrhundert unter diesen Bedingungen, die wären nicht mal mehr zum verfeuern gut!

Auf einmal wurde die Posaune in die Hände einer Frau gelegt. Seltsamerweise wusste die sofort wie eine Posaune anzufassen und zu halten war, Blasende Frauen? Sowas hatte es früher aber nicht gegeben. Die Frau blies in die Posaune hinein, ja, das hatte die sich gleich gedacht: viel zu wenig Luft! Frauen haben einfach nicht genug Kraft für ordentliche Instrumente, die sollten an Klavier oder Laute bleiben. Aber wenn dies ihre einzige Chance war, dem wegeworfen-werden zu entgehen?
Und diese Frau spielte erstens Kirchenmusik und keine Märsche und dann auch noch Tenorstimme – Hallo? Wo sind wir denn? Siehst du nicht, dass ich eine deutsche Bassposaune bin? Gebaut dafür bei knackiger Marschmusik Takt und Ton anzugeben?
Nunja, aber sie wurde wenigstens überhaupt wieder gespielt, da muss man sich wohl mit Kompromissen zufrieden geben. Die Posaune seufzte in sich hinein, aber sie gab sich Mühe, die für sie völlig ungewohnten Klänge so sauber und ordentlich zu spielen wie sie konnte, wenn auch ohne Begeisterung.
Sie war kaum eine Woche bei dieser Frau, da wurde ihr mit Messingpolitur kräftig zu Leibe, Verzeihung Blech, gerückt und unter der dunkelbraunen Oxidationsschicht kam wieder das golden glänzende Messing hervor, die Posaune strahlte stolz in altem Glanz.
Dann spielte sie ein Konzert in einer Kirche, das war sie ja auch gar nicht gewohnt, aber es war nett so im Schein der Kerzen, im Kreis der anderen Messinginstrumente und vor allem war das eine Akustik! Da konnte man als Posaune doch mal so richtig zeigen, was man konnte, nicht wie draußen im Freien, wo der Klang sofort weg war. Also mit der Kirchenakustik könnte sie sich schon anfreunden!

Dann wurde sie in eine Blechinstrumentenwerkstatt gebracht.
Das wurde ja auch höchste Zeit, ihr Ventil war schon lange festgerostet und für diese Knicke im Schalltrichter schämte sie sich schon ein wenig.
Da traf sie der nächste Schock: in der Werkstatt lagen zwar auch andere Posaunen herum aber was waren das für dünne Dinger? Da konnte doch niemals ein ordentlicher Klang rauskommen? Diese Posaunen sprachen amerikanisch oder sogar japanisch und redeten von Swing und Jazz und Sachen, die unsere Posaune noch nie gehört hatte. Marschmusik wurde heutzutage anscheinend von Tenorhörnern gespielt und nicht mehr von Posaunen. Sie war die absolute Exotin und kam sich entsetzlich schwerfällig und nunja, alt vor. Sie hörte die Blechbauer über sie lästern: *Wer investiert denn in sone alte Krücke noch soviel Geld?*
Als sie von der Frau wieder abgeholt wurde, war sie so dankbar, dass sie beschloss, nicht mehr über Kirchenlieder-Tenorstimmen zu schimpfen und sich anzustrengen.
Die Frau übte mit ihr jeden Tag, zwar immer nur diese langweiligen Choräle, aber so nach und nach bekam sie deutlich mehr Luft und konnte auch immer mehr Klang aus der Posaune herausholen, und je mehr Luft sie in die Posaune hineinbringen konnte, desto besser wurden die Töne und desto besser stimmten sie sich aufeinander ein bis sie ein richtig gutes Team wurden – auch diese neudeutschen Begriffe lernte die Posaune so langsam.

Die Posaune konnte sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen, als sie den Nachbarposaunisten einmal sagen hörte: *Ich hab die Kanne ja zuerst angeboten gekriegt, aber hab abgelehnt. Jetzt ärger ich mich darüber! Ich hab einfach nicht erkannt, was für ne gute Posaune unter dem ganzen Dreck steckte!*
Auch die Bläserin der Posaune grinste ein wenig und streichelte der Posaune über den Trichter, da wurde ihr ganz warm ums Blech.

An einem Sonntagmorgen spielten sie von der Empore der Kirche hinunter, wieder so einen langweiligen Choral, die Posaune konnte sich ein Gähnen kaum verkneifen. Aber da hörte sie die Gemeinde mitsingen: *….Segen kann gedeihn/ wo wir alles teilen/ schlimmen Schaden heilen/ lieben und verzeihn*
Hm, schlimmen Schaden? Das, was ihr erster Bläser da gespielt hatte, war wohl nicht alles so unschuldig gewesen, wie man naiverweise der Musik gerne nachsagt.
*Böse Menschen haben keine Lieder* ?
Oh, doch! Und wie!
Böse, laute Lieder, welche die leise Stimme der Vernunft übertönen!
Als diese Häuser brannten und die Menschen grölten, da hätte sie wohl besser einen Trauermarsch spielen sollen? Oder laut ihre Stimme zum Protestgeschrei erheben?
Zu spät, da hatte sie versagt.
Aber was hörte sie da? *lieben und verzeihn*?
War das ihre Chance? Sie durfte jetzt Choräle spielen, die vom Frieden und vom Verzeihen sangen! Sie durfte die Menschen laut zum Frieden rufen!
Da spielte sie auf einmal diesen Choral nicht nur mit ihrem Blech, sondern mit ihrem Herzen, mit allem Klang, den sie hatte und ihre Bläserin registrierte das auch sofort *Heut hat sie die Choralmusik akzeptiert* sagte sie zu ihren Mitbläsern über die alte Posaune. Die Mitbläser kuckten etwas kritisch, als ob sie nicht verstünden, dass die Dinge auch eine Seele haben können.

Aber von diesem Tag an spielte die Posaune die Kirchenmusik, alte und neue, mit Begeisterung und es kam ihr wie eine Belohnung vor, wenn sie bei Vorspielen oder Intraden auch mal ordentlich *knacken* durfte oder bei einem alten Romantiker ihren vollen sound (auch dieses neue Wort benutzte sie gerne) ausspielen konnte. Sogar die Swingmusik, die sie in ihrem früheren Leben als *Negermusik* verunglimpft hätte, machte ihr richtig Spaß und sie war glücklich, so viele Seiten der Musik kennen lernen zu dürfen.

Und so packt sie sich jetzt ein, um heute Abend beim Adventskonzert des Posaunenchors bei *Tochter Zion* ordentlich zu *knacken* und beim Bruckner-Stück ihren vollen Klang auszupacken!
Sie freut sich auf die Kerzen, die anderen Messinginstrumente und die Kirchen-Akustik, aber am meisten freut sie sich darauf, den Menschen die Botschaft von Versöhnung und Frieden verkünden zu dürfen!