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Über die Posaunenchorbewegung

Über die Posaunenchorbewegung

von Christoph Biermann
aus der Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Posaunenchores Alzey

In diesem Jahr feiert der Evangelische Posaunenchor Alzey sein 100-jähriges Jubiläum. Das ist eine eindrucksvoll lange Zeit. Doch gab es evangelische Posaunenchöre schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie war es damals zur Gründung von Posaunenchören gekommen?

In der historischen Entwicklung bestand zu jener Zeit eine reiche bläserische Tradition, die wir Bläser beispielsweise aus der Hora Decima von Johannes Pezelius und aus den Quatricinia von Gottfried Reiche kennen. Es gab die Stadtpfeifer vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, die von Städten angestellt waren, oder die Stadtkapellen im 19. Jahrhundert. Sie hatten die Festlichkeiten der Stadt musikalisch auszugestalten und wurden auch zum Teil zur Kirchenmusik herangezogen.

Warum dann noch Posaunenchöre? Zunächst zu ihrem Profil: Posaunenchöre spielen vor allem bei liturgischen, aber auch bei missionarischen, diakonischen sowie geselligen Anlässen. Sie sind bei Veranstaltungen im Freien eine musikalische Stütze, man könnte sie als Orgelersatz im Freien ansprechen. Die Bläserinnen und Bläser sind Laien. Grundlage ihrer Einsätze ist das chorische Musizieren mit Blechblasinstrumenten. Dazu gehört vor allem die vierstimmige Choralmusik, auch wenn die heutige Bläserliteratur verschiedenartige Stilrichtungen mit unterschiedlichen Stimmenbesetzungen kennt. Dieses Profil geht zurück auf die Gründung der Posaunenchöre aus dem Geist der Erweckungsbewegung. Ihr geistlicher Auftrag bestand – und besteht noch heute – darin, zum Lobe Gottes und den Menschen zur Freude zu musizieren gemäß dem biblischen Auftrag in Psalm 150: Lobet den Herrn mit Posaunen!

Es gibt allerdings schon eine Wurzel im Pietismus des 18. Jahrhunderts. Damals entwickelte sich eine neue Form von Zusammenkünften in kirchlichen Gruppen. Man traf sich, um die Predigt des Pfarrers noch einmal zu besprechen und christliche Erbauungsbücher zu lesen; man betete und sang. Dabei dürfte eine Begleitung des Gemeindegesangs wichtig gewesen sein. So entstanden in dieser Zeit in der Oberlausitz erste „Posaunenchöre“ in der Herrnhuter Brüdergemeinde, die sich aber nicht zu einer größeren Bewegung entwickelten.

Der „Posaunenchor“ in Herrnhut bestand aus einem „Chor-Posaunen“(Sopran), einem Alt-, einem Tenor- und einem „Bass-Posaunen“, bildete also ein Posaunenquartett, was man im damaligen Sprachgebrauch einen „Chor“ nannte. Wohlhabendere Gemeindemitglieder pflegten Instrumente für die Kirchenmusik zu stiften und haben diese dann auch selbst gespielt. Es hat wohl auch andere Instrumenten-Chöre (z.B. Blockflöten) gegeben. So treffen wir hier zum ersten Mal das Wort Posaunenchor, allerdings mit einer anderen Bedeutung als heute. Gleichwohl haben die Herrnhuter Reiseprediger durch die Betonung der geistlichen Gemeinschaft und der geistlichen Musik den Boden für die Posaunenchorbewegung bereitet.

Posaunenchöre im heutigen Sinn entstanden dann im 19. Jahrhundert in Ostwestfalen (Minden-Ravensberg). Hier gab es eine starke Erweckungsbewegung, die sich im Gegensatz zur Theologie der Aufklärung nicht auf rationale Begründungen berief, also die Wahrheit der christlichen Lehre nicht in der vernünftig-sittlichen Natur des Menschen begründet sah, sondern sich wieder auf die „grundlegenden Wahrheiten“ der Bibel besann und die „den christlichen Glauben, der alles neu macht“, mit Gebet, Umkehr und Buße leben wollte. In diesem Geist entstand der erste Posaunenchor im Jahre 1843 in Jöllenbeck.1

Der dortige Pfarrer Johann Hinrich Volkening hatte vorher in Gütersloh Bibelstunden nach dem Vorbild der pietistischen Zusammenkünfte eingeführt und mit einer Physharmonika (Vorstufe des Harmoniums) begleitet und setzte das nun in Jöllenbeck fort. Unter diesem Eindruck versammelten sich drei junge Männer zusätzlich zu Gottesdienst und Bibelstunde jeden Sonntagmorgen vor dem Frühstück im nahe gelegenen Wald, um sich über biblische Texte auszutauschen, sich gegenseitig aus Erbauungsbüchern vorzulesen sowie gemeinsam zu singen und zu beten. Bald stießen zwei weitere junge Männer hinzu, und man bat den Pfarramtsanwärter Gustav Meyer, ihnen Erbauungsstunden zu erteilen. So entstand 1838 ein Jünglingsverein.

Nicht lange danach wünschten sich die jungen Männer für ihre Gesänge nach den Besprechungen der Predigten eine instrumentelle Begleitung und kauften sich dafür eine Violine. Ein Mitglied nahm bei Dorfmusikanten Unterricht. Wegen des fehlenden Fortschritts kam eine Klarinette hinzu, der leichteren Handhabung wegen. Wenig später konnte man mit beiden Instrumenten den Gesang auch abends auf der Straße begleiten und natürlich auch in den Erbauungs- und Bibelstunden des Pfarrers.

Bald kam es zum Umstieg auf Blechblasinstrumente. Graf von der Recke-Volmarstein in Düsselthal (heute Stadtteil von Düsseldorf), der den Herrnhutern nahestand, hatte ein Waisenheim „Rettungsanstalt Düsselthal“ gegründet, in dem die Kinder nach den pädagogisch eingesetzten Prinzipien Religion, Arbeit und Musik erzogen wurden. Daher war unter den Jungen ein Musikchor mit Blasinstrumenten gebildet worden. So verwundert es nicht, dass er einigen jungen Männern aus dem Jöllenbecker Jünglingsverein unentgeltlich Musikunterricht erteilen ließ, als diese zwei Sommer lang 1841/42 auf seinen Grundstücken Waldrodungsarbeiten gegen Kost und Logis übernommen hatten.

Die jungen Männer von Jöllenbeck nahmen das Angebot an, verrichteten tagsüber Waldarbeit und übten abends auf den Instrumenten.

So konnte sich nach ihrer Rückkehr nach Jöllenbeck im Herbst 1843 eine Musiziergruppe bilden, deren erste Stimme mit einem Klappenhorn, die übrigen mit Zugposaunen besetzt waren. Andere Berichte sprechen von einer Trompete, einer Klarinette, einer Geige und einer Posaune.

Nach schwierigem Anfang wurde der Hauslehrer im Jöllenbecker Pfarrhaus, Dietrich Rische, der viel von Musik verstand, Förderer und Lehrer des Bläserchors von 1844 bis 1849. Die Übungsstunden am Mittwochabend und am Sonntagmorgen vor dem Gottesdienst wurden mit einem Choral begonnen und mit Schriftlesung sowie gemeinsamem Gebet beendet. Es wurden sehr einfache Choräle geblasen, die man aus dem damals gebräuchlichen Choralbuch für Organisten – vierstimmig gesetzte Choräle – abgeschrieben und in „Militärschreibweise“ umgesetzt hatte. Unter der Leitung von Rische spielte man dann auch volkstümliche oder rhythmisierte Lieder wie „Harre, meine Seele“.

Der Bläserchor spielte zu den Erbauungsstunden und begleitete die geistlichen Lieder des Jünglingsvereins bei Krankenbesuchen. In dieser Zeit wurde das Blasen vom Turm eingeführt. An Festtagen erklangen vom Kirchturm mehrere bekannte Choräle. Hinzu kam die Mitwirkung bei Erbauungsstunden außerhalb der Gemeinde, vor allem bei den zahlreichen Treffen erweckter Kreise, bei Hochzeiten, Kinderfesten, am Silvesterabend vom Kirchturm und auch zu Festen der Inneren und Äußeren Mission. Die überörtlichen Auftritte haben die Idee der Posaunenchöre weitergetragen und so die Laienbläserbewegung entstehen lassen.

Natürlich gab es in der Anfangszeit vereinzelt Widerstände gegen diese Laienbewegung durch liberale Geistliche, welche die Mitwirkung im Gottesdienst untersagten oder ihre Autorität durch einen Musikumzug am Buß- und Bettag zu einer religiösen Versammlung untergraben sahen. Wolfgang Schnabel zitiert eine polemische Stimme aus dem Jahre 1882: „Es gibt auch sog. ‘Posaunenchöre’, welche Töne blasen, die Steine erweichen und Menschen rasend machen können, und wenn irgendwo ein armer Mensch schwerkrank darniederliegt, so kommen diese traurigen Gesellen mit ihren Posaunen und geben ihm mit ihrer furchtbaren Musik den letzten Gnadenstoß.

In der folgenden Zeit wurden für die Posaunenchorbewegung Pastor Eduard Kuhlo (1822–1891) und sein Sohn Johannes Kuhlo (1856–1941) bestimmend. Sie gelten, wie allgemein bekannt ist, als „Väter“ der westfälischen Posaunenchöre. Ausgehend von Westfalen entstanden diese Chöre nun in ganz Deutschland.

Johannes Kuhlo2 kam 1882 als Pfarrer nach Hüllhorst. 1893 wurde er Anstaltspfarrer in Bethel. Hier war er als Vorsteher der Diakonenanstalt Nazareth und als musikalischer Betreuer der Sing- und Blaschöre tätig. Dass er die angehenden Diakone Blasinstrumente spielen ließ, trug sicher zur Verbreitung der Posaunenmusik bei. Für diese letztere Aufgabe hatte er beste Voraussetzungen, denn zum einen war er Bläser; schon 1865 hatte er das Blasen auf einer Alt-Posaune gelernt. Ab 1870 spielte er nur noch auf einem Flügelhorn, das er virtuos beherrschte. Zum anderen hatte er mit seinem Vater Eduard Kuhlo 1871 den Gütersloher Gymnasialposaunenchor gegründet und nach vielen Bläsertreffen und -schulungen war Johannes Kuhlo so erfolgreich, dass er 1881 auf einem Bläsertreffen in Hannover den Beinamen „Posaunengeneral“ erhielt. Er selbst bezeichnete sich als „Mitarbeiter am Psalm 150“ („Lobet den Herrn mit Posaunen!“).

Nachdem er in Bethel 1926 in den Ruhestand getreten war, widmete er sich ausschließlich dem geistlichen Bläserwesen. Im gleichen Jahr wurde er vom Reichsposaunenrat für Posaunenchöre im Evangelischen Jungmännerwerk Deutschlands zum Reichsposaunenwart gewählt. 1933 wurde er Reichsposaunenführer der Evangelischen Posaunenmission Deutschlands.

Johannes Kuhlos großes Verdienst war es, der Posaunenchorbewegung ein überzeugendes in sich geschlossenes Chormodell zu vermitteln. In Anlehnung an a-capella-Chöre verwendete er bei den Instrumenten eine einheitliche B-Stimmung und bevorzugte weit mensurierte Hörner, die gesanglich-weich gespielt werden sollten. Die Notation erfolgte als vierstimmige Partitur in Klavierschreibweise. Die Bläserliteratur bestand weitgehend aus Vokalwerken. In seinem berühmten Kuhlo-Horn-Sextett hat Johannes Kuhlo seine Vorstellungen umgesetzt. Dem Klangideal folgten die meisten Posaunenchöre in Deutschland. Erst nach 1945 änderte sich allmählich dieses Leitbild.

Wie entwickelten sich nun die Dinge im Bereich unserer heutigen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau? Es gab hier keine „Erweckungsbewegung“, wohl aber Erweckungen durch einzelne Persönlichkeiten wie Franz Josef Helferich in Rheinhessen. Auch wenn ihn die evangelischen Pfarrer distanziert betrachteten und die rheinhessischen Bauern zu seiner Frömmigkeit keinen Zugang fanden, hatte er gleichwohl überfüllte Gottesdienste und regte private Zusammenkünfte durch fromme Männer an. Er erzielte eine spürbare Wirkung auf das kirchliche Leben, aber eine Anregung zur Gründung von Posaunenchören war damit nicht verbunden.3

Die erste Gründung eines Posaunenchores im Großherzogtum Hessen-Darmstadt ist nach Volrad Kluge4 für 1854 in Klein-Linden gesichert. Es war die dritte Gründung in Deutschland nach Jöllenbeck und Hüllhorst. Im gleichen Jahr sollen Wilhelm Rüter und Konrad Textor Chöre in Ehringshausen und Wetzlar gegründet haben. Im Jahre 1856 entstand dann der Posaunenchor in Darmstadt-Arheilgen. Über die Anfänge des erwähnten ersten „hessischen“ Posaunenchors in Klein-Linden, heute Stadtteil von Gießen, berichtete Richard Boller5 im Jahre 1980 anlässlich des 90-jährigen Jubiläums des Posaunenchors in Langgöns, weil aus diesem Chor später der Langgönser Chor hervorgegangen ist und hierher seine geistliche und musikalische Ausrichtung empfing. Richard Boller zitiert dazu aus der „Denkschrift zum sechzigjährigen Jubelfeste des Klein-Lindener Posaunenchores“ von Pfarrer Otto Lenz, 1914: „Die regelmäßig stattfindenden Erbauungsstunden (einer kleinen Gruppe „biblischen Christentums“ gegen die „religiöse Dürftigkeit des Rationalismus“) wurden meist vom jeweiligen Leiter der Versammlung gehalten. Zu den Versammlungen erschien öfter der Diakon Wilhelm Rüter vom Wetzlarer Krankenhaus, ‘Wetzlarer Wilhelm’ genannt. Er war gebürtig aus Jöllenbeck, der Wirkungsstätte von Pastor Volkening, dem Ort des ersten Posaunenchores. Wenn der Wetzlarer Wilhelm kam, dann ruhten einmal die sonst benutzten Erbauungsbücher und Rüter legte selber ein Schriftwort aus. Von ihm nahm man das Wort gerne an. Dieser Wetzlarer Wilhelm vermißte in Klein-Linden sehr die festlichen Posaunenklänge, die er in seinem Heimatort Jöllenbeck kennengelernt hatte. ‘Jungens, ihr müßt blasen, ihr solltet einmal sehen, daheim da blasen unsere Jungens und das müßt ihr auch lernen!’ Das war seine öftere Ermahnung und er hätte gerne einige Klein-Lindener zur Anschauung nach Jöllenbeck geschleppt, aber das war zu weit. Als aber einmal jenseits Wetzlar, auf dem Kesselberg ein Jünglingsfest gefeiert wurde, bei dem der Jöllenbecker Posaunenchor mitwirkte, ließ er nicht nach, bis er zwei zum Besuch dieses Festes überredet hatte. Sehr früh am Sonntag machten sie sich auf den Weg, und erst nach Mitternacht waren sie wieder daheim. Aber wenn sie auch, wie es hieß, vor Müdigkeit die Beine nachschleifen ließen, so waren sie doch voll Begeisterung über das Gehörte. Von meinem Großvater habe ich es oft vernommen, daß dort der Entschluß gefaßt worden sei, einen Posaunenchor auch in Klein-Linden ins Leben zu rufen.
Die Berichte der beiden Abgesandten haben dann in Klein-Linden ihre Wirkung nicht verfehlt. Sofort tat man nun die ersten Schritte. Der Leiter der Versammlung veranstaltete eine Sammlung zur Anschaffung von Instrumenten. Es konnten insgesamt 9 Instrumente sehr alter Bauart beschafft werden. Es wurde geübt. Anfangs muß es eine üble Musik gewesen sein. Im Juli 1854 war der Posaunenchor gegründet worden, an Weihnachten wurde das erste öffentliche Auftreten gewagt. Drei Lieder gingen einigermaßen, nämlich ‘Allein Gott in der Höh' sei Ehr’, ‘Meinen Jesum laß ich nicht’ und ‘Valet will ich dir geben’. Der Chor- und Versammlungsleiter Phil. Lenz meinte danach: ‘Es geht noch ziemlich rauh, dem Herrn aber sei Lob und Dank dafür.’

Ähnlich wie in Klein-Linden hatte sich auch in Langgöns ein kleiner Kreis gebildet, der „sich regelmäßig unter Gottes Wort zusammenfand“. Von Anfang an hat eine enge Verbindung zu der Versammlung in Klein-Linden bestanden, was dann später zur Gründung eines Posaunenchors nach dem Beispiel von Klein-Linden führte. Das Spielen von Posaunenchören bei Treffen kirchlicher Gruppen hat auch in Lampertheim eine ansteckende Wirkung entfaltet. Als Pfarrer Kalbhenn, der hier als Pfarrverwalter von 1897 bis 1898 tätig gewesen war, mit dem Posaunenchor seiner späteren Gemeinde Obermockstadt an der Einweihung des evangelischen Krankenhauses in Lampertheim im Jahre 1902 mitwirkte, gab dies den Anstoß zur Gründung eines eigenen Posaunenchors in Lampertheim im Jahre 1903, der sich auch an den kirchenmusikalischen Grundprinzipien und den strengen glaubensbetonten Chorregeln orientierte. Natürlich war der Boden dafür bereits im „Evangelischen Jünglingsvereins“ bereitet worden.

Die Vorgeschichte der Gründung des Alzeyer Posaunenchors lässt sich nicht mehr anhand von Dokumenten aufzeigen. Es liegt aber die folgende Darstellung von Lehrer Konrad aus dem Jahre 19226 vor: „Im Dezember des Jahres 1904 wurde unser Verein durch 3 junge Männer, Phil. Schneider, Umsonst und Freund ins Leben gerufen. Näheres über die Gründung und die ersten Jahre des Vereins zu erfahren ist leider nicht möglich, da die Akten nicht soweit zurückreichen und weil der damalige Leiter Phil. Schneider inzwischen aus dem Leben geschieden ist. Dieser Mann wurde in Frankfurt im Christl. Ver. j. M. durch den dortigen Vereinsleiter Paulus für die Jungmännersache begeistert. Im Bund mit seinen 2 Kameraden (s. oben) wollte er diese Sache auch nach Alzey verpflanzen. Der damalige Verein scheint auch fruchtbar eingewirkt zu haben auf die Jungmännerwelt. Im Anfang des Bestehens war die Mitgliederzahl sehr klein, aber allmählich erweiterte sich der Kreis und am 2. Jahresfest des Vereins zählte er bereits 45 Mitglieder unter 24 Jahren. Als Ursache dieses schnellen Wachstums gibt Herr Schneider in seiner Rede am 3. Jahresfest des Vereins zwei Gründe an: 1. die Bibelstunde von Herrn Prof. Maerz und 2. der Unterrichtskursus (Buchführung, Stenographie, Geschäftsrechnen usw.). Durchschnittlich waren die Stunden von 10 jungen Männern besucht.

Zwar war auch in Alzey etwas vom Geist der Erweckung spürbar, doch hatte sich der Akzent verschoben; man wollte auch von Seiten der Gemeinde der schulentlassenen Jugend eine Perspektive bieten. Der Jünglingsverein hatte nach einem Spendenaufruf für den Evangelischen Verein der evangelischen Gemeinde Alzey von 1906 „sich die Aufgabe gestellt, durch belehrende Vorträge, anregende Lektüre, Pflege der Musik und nicht zuletzt durch Einführung in die heilige Schrift das Streben der jungen Leute höher zu richten und so auch für die irdischen Berufsarbeiten freudiger und tüchtiger zu machen. Der Verein zählt z.Z. 30 Mitglieder. Von auswärts hier in Stellung tretende junge Leute finden hier sofort Anschluß und brüderliche Gemeinschaft.

Der Verein hat sich also schnell ausgebreitet und viele junge Männer angezogen. Die Persönlichkeit von Prof. Friedrich Maerz dürfte dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Er war zu dieser Zeit Lehrer für Religion im Lehrerseminar Alzey mit der Amtsbezeichnung Professor. Vorher war er Pfarrer in Albig gewesen. „Er trat in der Zeit der Obrigkeitskirche dafür ein, dass man die Leute in eine persönliche Beziehung zur Kirche und zu Gott bringen muss, und leitete so eine an der Erweckungsbewegung orientierte Entwicklung in Alzey ein“, formulierte der ehemalige stellvertretende Kirchenpräsidenten Heusel.7

Da einige Jahre später der Verein aufgelöst worden war, wurde am 9. Mai 1909 durch den Vorsitzenden des Evangelischen Vereins ein neuer Christlicher Verein junger Männer gegründet. Auch bei ihm findet man die strenge christliche Orientierung, denn „der Verein hielt vier Abende ab: Sonntags eine bibl. Besprechung, mittwochs Bibelstunde, freitags einen Spielabend und samstags einen Leseabend. Bereits in seiner ersten Vorstandsitzung beschloß der neue Verein die Gründung eines Posaunenchors.8

Die Musikstunden des Posaunenchors wurden in diesem christlichen Geist abgehalten. Man spürt ihn noch in der Satzung des Alzeyer Posaunenchors von 1924, denn in § 4 Buchst. b wurde festgelegt: „Mitglied kann jede männliche Person werden, die das 17. Lebensjahr erreicht und einen christlichen Ruf hat.“

Als sich die Posaunenchorbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg auf ihr Selbstverständnis und ihre Aufgabe9 besann, bestärkte sie – möglicherweise als Reaktion auf manche deutsch-nationalen Töne vor dem Krieg – erneut ihre christlichen Wurzeln aus der Erweckungsbewegung. „Bei einem Posaunenchor handelt es sich um einen Chor, der in reiner Blechbesetzung in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, geistliche Musik spielt, und der mit seiner Arbeit ganz im Leben der Gemeinde und Kirche verwurzelt ist. Wir sind also kein ‘Musikkorps’ weltlicher Prägung, auch nicht ein christliches oder kirchliches Blasorchester oder welchen Namen man wählen könnte. Der Name ‘Posaunenchor’ verpflichtet zu dem doppelten Dienst der Verkündigung in der Gemeinde und in der Welt

Eine musikalische Öffnung wird dabei nur ganz vorsichtig angestrebt. „Wir halten es für gefährlich, wenn wir musikalisch auf der Stelle treten, d.h. weder in unserer Notenliteratur noch in der Blastechnik vorwärtsschreiten und wenn wir uns die Erkenntnisse, die die musikalische Erneuerungsbewegung gebracht hat, nicht zu eigen machen und sie in unserer Chorarbeit nicht auswerten. … Dieser doppelten Gefahr (eines starren Festhaltens und der radikalen Neuerung) wollen wir dadurch entgehen, daß wir es uns erbitten, daß wir unter der Leitung des Geistes und im Gehorsam gegen den Herrn und sein Wort Schritt um Schritt unseren Weg gehen. Wenn wir ein Neues wollen, dann nur im Sinne des 98. Psalms: Singet dem Herrn ein neues Lied! Das muß ein neues Lied von der Gnade des Herrn sein, das mit neuen, d.h. erneuerten – erlösten Zungen gesungen oder geblasen wird, aber auch ein Lied, das in neuer Weise dem Herrn in Dank und Anbetung dargebracht wird.

Besonders deutlich wird der Versuch, wieder am Geist der Erweckungsbewegung anzuknüpfen, wenn „Der Chorleiter“ in der gleichen Ausgabe von 1952 die Aufgabe des Chorleiters im Gegensatz zu einem Dirigenten beschreibt: „Bei einem Posaunenchor rechter Art geht es darum, daß die einzelnen Glieder einer möglichst einheitlichen brüderlich-christlichen und musikalischen bzw. kirchenmusikalischen Gemeinschaft sich zu Lob und Anbetung vereinen. Dabei steht der Chorleiter seinem Chore nicht als musikalischer Magier gegenüber, sondern er ist – um ein biblisches Wort zu gebrauchen – Gehilfe der Freude, dem es gegeben ist, auf Grund einer gründlichen Ausbildung oder besseren Übersicht sowie Kenntnis des Notenmaterials und der Instrumente die Chorgemeinschaft zu einer wirklich einheitlichen und guten Leistung zu führen. Da die Grundlage unseres Dienstes der Choral ist, und bei aller Bemühung um bläserische Satzgestaltung wir die Grundlage des Wortes und des Chorals nicht verlassen wollen, muß ein rechter Leiter eines Posaunenchores unter dem Worte stehen und im Worte leben und von daher ein tiefes Verständnis für Wort und Weise des Chorals gewinnen. Dann ist er nicht nur Dirigent, der Takt und Rhythmus angibt und die Bläser zu musikalischen Leistungen begeistern kann, sondern mehr. Er wird in gemeinsamem Ringen um Sinn und Gehalt von Wort und Weise als musikalischer Leiter und als Seelsorger zugleich helfen, daß das Blasen unserer Chöre immer mehr geschehe im Sinne unserer Losung: Lobet den Herrn mit Posaunen.

Es ist gut, dass die damalige Redaktion den Text etwas relativiert hat, indem sie um Äußerungen zu dieser Auffassung bat. Offenbar hat sie gespürt, dass der formulierte hohe Anspruch – schon damals – der Diskussion bedurfte. In dieser Festschrift geht Kantor Hartmut Müller mit seinem Beitrag „Literatur im Posaunenchor als Spiegel der Zeit“ auf die weitere musikalische Entwicklung der Posaunenchöre und die heutige Auffassung ein.

1Die folgenden Einzelheiten sind der sehr gut recherchierten „Geschichte der evangelischen Posaunenchorbewegung Westfalens 1840–2000“ von Wolfgang Schnabel, Luther-Verlag Bielefeld 2003 entnommen.
2Unter der Literatur zu Johannes Kuhlo bietet das Buch, Johannes Kuhlo, Mitarbeiter am Psalm 150 , Bielefeld 1991, unterschiedliche Perspektiven auf seine Person und Wirken und lässt die interessante Persönlichkeit besser kennenlernen. Dort wird auch seine Zeit ab 1933 differenziert dargestellt.
3Vgl. Heinrich Steitz, Geschichte der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau III, Marburg 1965 S. 351 ff.
4Volrad Kluge, Alte Posaunenchöre in und um Hessen, aus: Beiträge zur Geschichte evangelischer Posaunenarbeit, herausgegeben von Horst Dietrich Schlemm, Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1994, S. 242 ff.
5„Chronik des Ev. Posaunenchores Langgöns“, Festschrift zum 90jährigen Bestehen im Jahre 1980, gestaltet von Richard Boller
6Als ab 1922 eine Chronik des Posaunenchores eingeführt wurde, fasste Friedrich Konrad rückwirkend die Zeit von der Gründung bis zum Weltkrieg 1914 zusammen und stellte sie der Chronik voran.
7Aus einer Mitteilung von Kantor Müller über eine Telefongespr&aum;ch mit Herrn Heusel, dessen Frau eine Enkelin von Prof. Maerz war.
8Aus der Vorbemerkung zur Chronik; vgl. Anmerkung 5
9Auszüge aus „Der Chorleiter, Fachblatt f&uumL;r die deutschen evangelischen Posaunenchöre“ M&quml;rz 1952, An unsere Chorleiter!

Die Festschrift kann man für 10 € bei Hartmut Müller bestellen.